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Entwicklung der CILCA (Gemeinschaft der Lutherischen Kirchen in Zentralamerika)
Zum Ende seiner aktiven Dienstzeit fasste Wolfgang Döbrich seine Erfahrungen in einem Artikel zusammen.
Realisten und Visionäre: zur Partnerschaft mit der „Gemeinschaft Lutherischer Kirchen in Zentralamerika“
1. Am 27. April feierte die Costaricanische Lutherische Kirche den Höhepunkt des Festjahres zu ihrem 20-jährigen Bestehen.
In einem prachtvollen Festgottesdienst in der Hauptstadt San José wurde Kirchenpräsident Melvin Jiménez von Bischof Dr. Medardo Gómez, El Salvador, in sein Amt als erster Bischof seiner Kirche eingeführt. Anschließend wurden vom neuen Bischof vier Pfarrer ordiniert und weitere sechs Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in das neu geschaffene Amt eines „Ministro“ bzw. einer „Ministra de la Misión Integral“ (Mitarbeiter/in der ganzheitlichen Mission) eingeführt. In seiner Predigt betonte der Leiter der Diakonieabteilung Miguel Rojas drei Dimensionen seiner Kirche: sie steht in der Nachfolge Jesu Christi, sie sieht realistisch die Bedürfnisse des Volkes, sie hofft mit aller Kraft auf das kommende Reich des Herrn. Damit ist ein Dreiklang angeschlagen, der die kleinen lutherischen Kirchen in Zentralamerika zu charakterisieren vermag.
2. Nachfolge Jesu in schweren Zeiten
Die Mehrzahl der in der „Gemeinschaft der Lutherischen Kirchen in Zentralamerika“ (CILCA) zusammengeschlossenen Kirchen ist aus der Erfahrung des Bürgerkriegs in El Salvador in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hervorgegangen. Während sich in El Salvador die ursprünglich von der Missouri-Mission geprägte Lutherische Synode zu einer gesellschaftskritischen Kraft entwickelte, brachten Flüchtlingsströme die lutherische Kirche nach Honduras und vor allem nach Nicaragua. In Flüchtlingslagern, unter Bäumen und provisorischen Dächern wurde Gottesdienst gefeiert. Diese Ursprungssituation von Migration, Erfahrung von Gewalt, Übergangszustand prägt die Kirchen noch heute. Sie sehen sich in allem nahe am Leben Jesu.
Die Bedürfnisse der Flüchtlinge und Vertriebenen standen im Mittelpunkt des diakonischen Handelns der Kirchen. In El Salvador etablierte sich der „Socorro Luterano“ (Lutherische Hilfe), der viele Hilfsgelder aus Übersee verwaltete. Menschen wurden zur Hilfeleistung eingestellt – und konnten doch nach dem Friedensschluss 1992 nicht so schnell wieder entlassen werden, wie die internationale Hilfe versiegte. Bischof Gómez meinte einmal: „für Hilfe in Kriegszeiten gibt es internationale Unterstützung, zum Aufbau des Friedens fehlt das Geld!“ Schmerzhafte Entlassungen, Reduktion des Personals prägen die salvadorenische Kirche bis heute.
Das Elend des Bürgerkriegs wurde abgelöst von anderen qualvollen Erfahrungen. In den verwundbaren Ländern Zentralamerikas mit ihren auf Export ausgerichteten Monokulturen von Kaffee, Bananen, Ananas stellen sich immer wieder Absatzkrisen und Naturkatastrophen ein. „Entre huracanes, terremotos y hambre” (Zwischen Hurrikanen, Erdbeben und Hunger) nannte sich der erste Runde Tisch des Lutherischen Weltbunds in der Region im Jahr 2001. Seit dem Hurrikan Mitch 1998 und den Erdbeben 2001 in El Salvador ist die Region tatsächlich nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Heute wirken manchmal noch gravierender die Folgen der Freihandelsverträge mit den USA und die explodierenden Ölpreise. Sie bedrohen weite Regionen mit Hunger, weil es sich für die Bauern nicht mehr lohnt, das Land zu bestellen. Sie können von ihrem Verdienst nicht leben. Die Preise für Energie, Transport und Lebensmittel gehen unaufhaltsam nach oben.
In alledem versuchen die lutherischen Kirchen in der Nachfolge Jesu nahe bei den Menschen zu sein. Sie begleiten die Menschen, sprechen ihnen in Andachten und Gottesdiensten Trost und Mut zu. Sie laden zu Bibelgesprächen und Selbsthilfegruppen ein. Dennoch sind die Zahlen klein. Die Lutheraner befinden sich in einer absoluten Minderheitssituation in ursprünglich rein katholischen und heute mehr und pfingstlerisch geprägten Ländern. Oft versammeln sich in den Gemeinden nur noch Kinder, ein paar Jugendliche und einige Mütter. Die Männer sind außer Landes gegangen, um in den USA oder in Costa Rica Arbeit zu finden. Frauen und Großeltern versuchen sich und ihre Kinder über Wasser zu halten. Bei Krankheiten oder Unfällen ist ihr Leben existentiell bedroht.
Mit ökumenischer Hilfe entwickeln die Kirchen diakonische Programme mit großem Realitätssinn. Es ist angesichts der Not wenig, was sie leisten können, aber sie versuchen immer wieder „autoestima“ (Selbstwertgefühl) und Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln. Dazu gehört die große Vision, dass da noch mehr ist, dass das Leben in erdrückender Not nicht alles ist, was das Volk Gottes ausmacht. Realitätssinn und eine große Vision bestimmen die Partnerkirchen in Zentralamerika.
3. Realistische Wahrnehmung der Bedürfnisse des Volkes
Drei besonders bedrohte Bevölkerungsgruppen hat die lutherische Kirche in Costa Rica (ILCO) ausgemacht: die Migranten aus Nicaragua und anderen Ländern Zentralamerikas, die Arbeiter/innen in den „bananeras“ und „piñeras“, in den Bananen- und Ananasplantagen, die Indígenas, die Indianer, in ihren Rückzugsgebieten in den Bergen und Regenwäldern. Die Kirche arbeitet doppelgleisig: mit Rechtshilfeprogrammen, die die prinzipiell fortschrittliche Gesetzgebung des Landes den oftmals unwissenden Betroffenen bewusst macht. Rechte werden zugänglich gemacht und eingeklagt – von Schutzmaßnahmen in den Plantagen bis zu den Landrechten der „ersten Völker“. Man scheut nicht die Macht der internationalen Konzerne, die Trägheit der eigenen Behörden und die Gewohnheitsrechte der weißen Siedler.
Dazu gibt es exemplarische Hilfsprogramme wie „Futbol por la vida“ (Fußball für das Leben) oder die „casa abierta“ (offenes Haus), die Straßenkinder aus einem ziellosen, gewaltbedrohten Leben in geschützte Räume bringen. So bekommen sie neue Perspektiven für ihr Leben. Im Indianerreservat Cabagra und in vielen anderen Gemeinden lehrt der Indigene Nehemias Rivera organischen Landbau. Viele Ureinwohner haben im Lauf gewaltsamer Vertreibung verlernt, ihren Boden zu bebauen und bewahren. Ein organischer Markt auf dem Kirchengelände in San José ermöglicht jeden Samstag den Direktabsatz der eigenen Produkte sowie von Kunstgewerbe.
Die Kirche hat vom Volk gelernt, wie Miguel Rojas in seiner Festpredigt feststellte. Sie sieht Bedürfnisse, entwickelt Programme, arbeitet mit internationalen Entwicklungsorganisationen und lokalen Partnern zusammen und bildet einen wichtigen Teil der Zivilgesellschaft des Landes. So übernahm sie beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Mobilmachung zum Plebiszit über das Freihandelsabkommen im vergangenen Jahr, das mit wenigen Stimmen verloren ging.
Kein Wunder, dass die Kirche auch Mitarbeiter von anderen Kirchen im In- und Ausland anzieht. In der ILCO arbeiten Pfarrer/innen aus Schweden, Brasilien und den Vereinigten Staaten, nicht zuletzt sechs Freiwillige aus der bayerischen Landeskirche.
Je zwei dieser Freiwilligen waren für die Lutherischen Kirchen in El Salvador und in Honduras vorgesehen. Leider hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das das neue „Weltwärts-Programm“ verantwortet, davor gewarnt, Freiwillige in diesem Jahr nach El Salvador und in die beiden größten Städte in Honduras zu entsenden. Sie seien bei der exorbitanten Gewalt in diesen Ländern – vor den Wahlen in El Salvador und angesichts der „Maras“ (Jugendbanden) in Honduras - extrem gefährdet.
Gewiss arbeiteten unsere Freiwilligen in besonders problematischen Bereichen, aber sie genossen auch den Schutz der Bevölkerung, die ihre Arbeit in der „Casa La Esperanza“ und im „Arco Iris“ achteten. Im vom Ehepaar Helmut und Waltraud Köhler geführten „Haus der Hoffnung“ können Obdachlose der Stadt San Salvador untertags ihre Dinge richten, Ansprechpartner und ein warmes Mittagessen bekommen. Die von unseren Freiwilligen gegründete und geführte Kindertagesstätte „Regenbogen“ nimmt Kinder aus der Elendssiedlung „Villa Nueva“ in Tegucigalpa, Honduras, auf, bewahrt sie vor den Zwängen der Straße, arbeitet präventiv im Blick auf Rauschgift und Prostitution. Es sind Hoffnungsinseln inmitten eines Meeres von Gewalt und Verzweiflung in den Elendssiedlungen am Rand der Großstädte Zentralamerikas. Hier haben junge Menschen keine Perspektive, entschließen sich zur illegalen Migration in die USA, werden geschnappt und wieder zurückgeschickt: ein Kreislauf der Hoffnungslosigkeit. Sie praktizieren nordamerikanische Gangstermethoden in ihren Heimatstädten und fordern Staat und Gesellschaft heraus. Eine Lösung ist nicht im Blick.
Unsere Partnerkirchen haben ihre Wurzeln auf dem Land, in Camps und kleinen Dorfgemeinden. Dort arbeiten auch die „pastores laicos“ (Laienpfarrer), die Katechisten und Katechistinnen, Evangelisten und Diakoninnen, und, neuerdings, die Minister der Mission. Manche von ihnen arbeiten halbtags als Promotoren in einem Projekt der Kirche wie Straßenkinderarbeit, Kleinkredite, Wiederaufforstung, Umstellung landwirtschaftlichen Anbaus, Marktöffnung, Gemeinschaftsentwicklung etc. Andere erhalten kleine „ayudas“ (Unterstützungen) und „viaticos“ (Wegegelder) zu den Fortbildungsveranstaltungen in den Hauptstädten. Die Laienpfarrer/innen sind Teil der ländlichen Bevölkerung, arbeiten in der Woche als Tagelöhner und versehen am Sonntag den Gottesdienst. Eine Perspektive als hauptamtlich angestellte Pfarrer und Pfarrerinnen haben sie nicht.
Deswegen versucht die Kirche mit Stipendien aus den Partnerkirchen junge Leute zu fördern, die später einmal ihrer Kirche als Juristen, Psychologinnen, Pädagogen, Ärztinnen etc. im Prädikantendienst dienen und auch als kommender „Mittelstand“ finanzielle Beiträge leisten. Schon jetzt ist beachtlich, wie viele junge Leute sich zur Kirche halten und sich Orientierung und Perspektive erhoffen. Das gilt vor allem für die lutherischen Kirchen in den beiden ärmsten Ländern Nicaragua und Honduras. Nur mit dieser Strategie ist eines Tages mehr „sustentabilidad“ (Selbsterhalt) zu erreichen.
All dies geschieht im Rahmen einer Gesellschaft, die von den Problemen, die die neoliberale Globalisierung mit sich bringt, an die Wand gedrückt wird. Sind schon die Staaten Zentralamerikas ohne „remesas“ (Geldüberweisungen) der Emigranten, ohne Kredite und Entwicklungshilfe der Industrieländer nicht lebensfähig, können es die Kirchen in ihnen auch nicht sein. Eine Perspektive für die kleinen Länder Zentralamerikas erschlösse sich über „good governance“, ein besseres Regieren auf allen Ebenen, über eine stärkere Regionalisierung, über Landreformen und generell eine „Wiederentdeckung des Landes“. Dann könnten lokale Kreisläufe wieder belebt und entwickelt werden. Dann hätte auch der Tourismus eine größere Chance, denn die Länder zwischen Pazifik und Karibik stecken voller Naturschönheiten und historischer Kulturgüter. Schließlich mag auch der Standortvorteil im Gravitationszentrum zwischen Nord- und Südamerika, Europa und Ostasien seine Wirkung entfalten. Geplant ist ein zweiter „Atlantik – Pazifik - Kanal“, diesmal durch Nicaragua, mit all den Infrastrukturinvestitionen, die er mit sich bringen würde.
Gegenwärtig ist davon aber noch nicht viel zu spüren. Mag sein, dass die bevorstehenden Wahlen in El Salvador, später auch in Costa Rica und Honduras einen Politikwechsel bringen. Sie werden mit Gewalt und scharfen Auseinandersetzungen, aber auch mit viel Hoffnung, erwartet.
4. Hoffnung auf das kommende Reich Gottes
Hoffnung kennzeichnet auch unsere Partnerkirchen. Allerdings eine ganz andere Hoffnung, als politischer Wechsel sie mit sich bringt. Die Kirchen haben eine Vision. Besucher aus den Partnerkirchen sind für sie nicht nur Kirchenvertreter. Sie weisen auf eine umfassende Gemeinschaft hin, in die wir alle einbezogen sind. Sie verkörpern eine Perspektive, die weit über die aktuelle Partnerschaft hinausweist.
Am deutlichsten wird dies in den Andachten und Gottesdiensten, die bei jeder Begegnung gefeiert werden. Auf manchen Partnerschaftsreisen habe ich innerhalb der vierzehn Tage meines Besuches 20 – 30 Gottesdienste gefeiert. Jedes Mal beteiligten sich Gemeindeglieder an Lesungen, Gebeten oder Zeugnissen. Die Gebetskultur ist im Unterschied zu unseren landeskirchlichen Gegebenheiten hoch entwickelt. Jede und jeder ist bereit, für die Gäste, für die Gemeinde, für die Kirche weltweit zu beten. Freie Tischgebete, Gebete zum Beginn und zum Ende einer Besprechung, Zuspruch des Segens sind selbstverständlich. Gern wurde ich im Gottesdienst um die Predigt gebeten. Dankbar war man für das Aufzeigen von Beziehungen in der einen Kirche Jesu Christi.
Selbstverständlich gehört zum Gottesdienst das Abendmahl, die „santa cena“. Sie verbindet in der weltweiten Gemeinschaft mit allen Christinnen und Christen. Ja noch mehr: das große Lobgebet vor dem Abendmahl drückt alle Hoffnung der armen Campesinos aus: „Con ángeles y arcángeles y con toda la corte del cielo, te cantamos ahora y para siempre“ (Mit Engeln und Erzengeln und mit dem ganzen himmlischen Hof singen wir Dir jetzt und immer). Mit einem Mal steht der irdische Tagelöhner, der nicht weiß, wie er seine Familie heute und morgen durchbringen soll, mitten im himmlischen Hofstaat und singt und betet mit allen Engeln und Heiligen. Er ist nicht nur der Mann oder die Frau auf der Straße Managuas oder Tegucigalpas, er gehört mitten hinein in die Gemeinschaft des Reiches Gottes. Das gibt neues Selbstwertgefühl, das macht selbstbewusst und hoffnungsfroh.
Dieser Teil des Gottesdienstes wird in Zentralamerika ganz anders empfunden als das in unseren Gemeinden landauf und landab geschieht. Deutlich wird das an einem Geschehen, das bei uns fast verkümmert ist. Wenn der Pfarrer seine Gemeinde zum Friedensgruß auffordert, kommt es in bayerischen Gemeinden im Normalfall zu einem Händedruck nach rechts und links, wenn es hoch kommt auch noch nach vorn und zurück. In den Kirchen der CILCA beginnt an dieser Stell ein bewegendes Geschehen. Es geht um „abrazos“, Umarmungen mit Küsschen auf die Wange. Die ganze Gemeinde ist in Bewegung. Es ist, als wollten sich alle ihrer Zugehörigkeit zur irdischen und zur himmlischen Gemeinschaft versichern. Keine und keiner wird beim Friedensgruß ausgelassen. Gute Worte werden über den Gruß „Friede sei mit dir“ hinaus gesagt. Erst wenn alle sich in den Armen gelegen haben, kehrt die Liturgin zum Altar zurück. Die Austeilung geschieht dann auf dem Hintergrund der katholischen Tradition als Wandelkommunion mit Intinctio. Deutlich wird: die Kommunion am Tisch des Herrn führt zur Communio, zur Gemeinschaft unter den Christen und Christinnen und bezieht die künftige Gemeinschaft des Reiches Gottes mit ein. Auf dem Hintergrund einer als bedrückend empfundenen Gegenwart wird diese Vision der Gottesherrschaft so oft es geht gefeiert. Und dazu gehören viele Lieder aber auch Tanz und Musik.
Die Christen in Zentralamerika sind Visionäre und darin liegt auch ihre Bedeutung für uns. Mir scheint, als könnten wir diese Vision in unserem oft von klassischen Aufgaben und Tagesfragen geprägten Kirchenalltag sehr gut gebrauchen. Es geht um ökumenische Weite und lebendige Hoffnung angesichts von Einengung und Alltagsdruck. Es geht um Freude und Zuversicht inmitten von beengenden Verhältnissen. Dass die Menschen dort in ihrem Elend einen fröhlichen Glauben leben, mag uns Impulse für unseren Glauben, für unsere Liebe in gesicherten Verhältnissen geben. Ich denke, dass man diese Anstöße an den Gemeinden ablesen kann, die eine lebendige Partnerschaft mit Christen und Christinnen in Übersee pflegen, sei es in Afrika, Asien, Ozeanien oder Lateinamerika.
Der Glaube in den armen Ländern drückt sich im Alltag ganz anders aus als das bei uns der Fall ist. Das beginnt bei alltäglichen Redewendungen und endet bei öffentlicher Parteinahme. Nur ein Beispiel: wer in Lateinamerika gefragt wird: „Como estás?“ (Wie geht es dir?), wird antworten: „Bién“, und unweigerlich hinzufügen: „Gracias a Dios!“ (Gut, Gott sei Dank!). Ich habe das ein paar Mal in Deutschland praktiziert und erntete die Rückfrage: „Hattest du eine schwere Zeit?“ Wir sind nicht mehr gewohnt, Gott in unserem Alltagsvokabular im Mund zu führen. Dort geschieht es in vielen Wendungen: Primero Dios (Gott zuerst – bei Planungen aller Art), si Dios quiere, si Dios lo permite (wenn Gott will, es zulässt – bei Wünschen) etc., Verabschiedungen enden normalerweise mit der Segensbitte Dios te bendiga oder Dios te socorra – Gott segne dich, er helfe dir. Dies regt an, die Realität Gottes auch in unserem Alltagsleben wieder bewusst wahrzunehmen.
Die Kirchen gehen mit ihrem Glauben auch an die Öffentlichkeit. Am 6. August ist Nationalfeiertag in El Salvador und die Lutherische Kirche pilgert mit befreundeten Basisorganisationen durch die Straßen San Salvadors. Sie proklamiert die Einführung des Lutherischen Bischofsamts in El Salvador und macht ein politisches Wächteramt geltend. Angesichts des wiederkehrenden Hungers war in diesem Jahr das Motto: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Bischof Gómez weist darauf hin, dass die Schöpfung Nahrung genug bereit hält, dass aber ihre praktizierte Kommerzialisierung zu immer neuen, weltweiten Hungersnöten führen wird. Die Spiritualität des Herrengebetes will nicht verurteilen, sondern zur Umkehr führen. Hier sieht die Kirche ihre zentrale Aufgabe. Sie will mit Inbrunst beten und für Frieden und Gerechtigkeit arbeiten, damit sich diese vierte Bitte des Vaterunsers täglich erfülle.
5. Ausblick
Ähnliche Töne wurden auch beim eingangs erwähnten Einführungsgottesdienst für Bischof Melvin Jiménez laut. Hier ging es ebenfalls um das Wächteramt der Kirche angesichts der bedrohlichen Entwicklung, die den Armen Lebensraum entzieht. Das Gottesdienstprogramm stellt am Ende die Lutherische Kirche vor: „Die Lutheraner bilden die erste protestantische Kirche, die zuerst in Deutschland entstand, als Ergebnis der Reform, die vom Augustinermönch Martin Luther begonnen wurde. Unter den Lutheranern sind die Gottesdienstformen ähnlich denen in der katholischen Kirche, von denen Luther viele Elemente bewahrte. Aber Luther betonte das „Priestertum aller Gläubigen“. Darunter versteht man, dass der Christenmensch persönlich Zugang zu Gott hat und seine rettende Gnade empfängt…Die Frauen bilden Teil des Klerus, Pfarrer und Pfarrerinnen können heiraten. Lutherische Kirchen gibt es in 80 Ländern mit über 70 Millionen Gläubigen. In Costa Rica ist sie in 30 Gemeinden vertreten und dient etwa 5000 Personen. Ihre Bemühungen richten sich in erster Linie an: Indigene, Campesinos und Campesinas, Migranten, Frauen, Kinder, Jugendliche … und Personen, die mit VIH/AIDS leben.“
Diese Selbstvorstellung wurde mit den Berichten über die Bischofseinführung im ganzen Land verbreitet: Sie führte dazu, dass aus vielen Städten Anrufe und Mails kamen, wo denn die Gottesdienste dieser Lutheraner stattfänden und wie man diese Kirche näher kennen lernen könne. Eine Kirche mit ca. 1500 Mitgliedern steht auf einmal im Focus öffentlichen Interesses. Man spürt hier eine echte Alternative zu den individualistisch eng geführten Pfingstlern brasilianischer oder nordamerikanischer Herkunft und einer konservativen katholischen Kirche, die die Impulse der Befreiungstheologie nicht umgesetzt hat. Geht es hier oft nur um geistliche Indoktrinierung und Versorgung, so werden die Menschen in den historischen Kirchen der Reformation eingeladen, sich ihrer Berufung zu einem tätigen Leben bewusst zu werden. Wenn sich gegenwärtig auch nur wenige Menschen auf die gesellschaftlich aktive und zugleich visionäre lutherische Kirche einlassen, so entwickelt sie doch eine Kraft, die den einzelnen und ihren Gesellschaften hilft, schwere Zeiten zu bestehen.
Wolfgang Döbrich
31. August 2008